Der blaue Stein brachte neue Hoffnung ins Tal

Für Lautertal war die Entwicklung epochal: 1881 wurde erstmals wieder und auf lange Dauer am Felsberg heimisches Gestein gebrochen. 1882 bauten dann Kreuzer und Böhringer in Gadernheim im Forst den damals noch als Granit bezeichneten „blauen Stein“ ab.

Weitere Aktivitäten der Branche sollten über ein Jahrhundert hinweg zwischen Bensheim und Lindenfels zeitweise fast 1000 Arbeitsplätze schaffen. Die beiden Steinmetzen Michael Böhringer und Karl Kreuzer aus Weißenstadt in Thüringen waren eigentlich im Auftrag einer Düsseldorfer Marmorfirma in den Odenwald geschickt worden, um Ausschau nach dunklen Hartgesteinen zu halten. Doch als sie die Chancen erkannten, pfiffen sie schnell auf ihren bisherigen Brötchengeber.
Sie machten sich selbstständig und eröffneten neben der Straße zwischen Lautern und Gadernheim einen Steinbruch. Das Geschäft muss sehr lukrativ gewesen sein: Innerhalb weniger Jahre pachteten die Thüringer weitere Steinbrüche in Lindenfels und Beedenkirchen und errichteten Steinschleifereien in Lindenfels und Elmshausen.
In Bensheim erwarb Kreuzer zudem 1885 ein Granit- und Syenitwerk. Es war von den Gebrüdern Hergenhahn erbaut worden, musste aber aus finanziellen Gründen abgetreten werden. Karl Hergenhahn meldete dann am 2. Mai 1889 die Gründung eines eigenen Gewerbebetriebes in
Reichenbach an, aus dem sich die Deutsche Steinindustrie (Destag)
entwickelte.

Denkmäler beleben die Konjunktur
Zu den schnellen Erfolgen der Branche trug außer dem damals
florierenden Bau von Denkmälern, Straßen und Brücken, die schwierige Lage der Menschen im Odenwald bei. Die meisten von ihnen waren in der Landwirtschaft als Kleinbauern oder Hilfskräfte tätig. Noch für 1950 bezifferte der Gadernheimer Georg Grohrock die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe und Nebenerwerbsbetriebe in seinem Heimatdorf auf 94 (Lautern 26, Raidelbach neun). Wegen ihrer Kleinteiligkeit aufgrund von Erbteilungen waren die Höfe selten rentabel, konnten ihre Besitzer nicht ernähren. Auch deshalb setzte Mitte des 19. Jahrhunderts eine Auswanderungswelle – bevorzugt nach Nordamerika – ein. Die begeisterten Briefe der Odenwälder aus der Neuen Welt hat Hans Heldmann in seinen Schriften festgehalten.
Hoffnung machte den Gadernheimern die Wiederbelebung der Borgers-Mühle. Hier wurde Graphit vom Schwarzen Buckel und weiteren kleineren Fundstätten aus der näheren Umgebung gemahlen. Das Unternehmen gab nach Grohrock „70 Familien Verdienst“. Doch um 1870 sei es eingestellt worden.

Schlechte Arbeitsbedingungen
Gerne nahmen deshalb die Männer die vielen neuen Arbeitsmöglichkeiten beim Abbau der Steine in den Brüchen, beim Transport, Schleifen oder Bearbeiten des „blauen Steins“ an. Doch schnell stellte sich auch im vorderen Odenwald die soziale Frage: Unwürdige Arbeitsbedingungen, karge Löhne, Kinderarbeit, unzureichende Versorgung im Krankheitsfall, sowie Massenentlassungen in den Wintermonaten führten zur Gründung von Unterstützungsvereinen und Gewerkschaften.
Als einer der ersten gründete sich am 18. Januar 1900 in Gadernheim der Arbeiter-Unterstützungsverein, der noch heute aktiv ist. In ihrer Festschrift zum 100-jährigen Bestehen macht die Organisation deutlich, wie schlecht es damals den Arbeitern ging. So musste ein Steinhauer rund vier Stunden für vier Pfund Brot arbeiten, für ein Kilogramm Butter waren es gar 18 Stunden. Katastrophal war die Versorgung im Krankheitsfall oder gar bei Todesfällen in Steinbrüchen: Die Hinterbliebenen mussten von Verwandten und Freunden versorgt werden.
Mit regelmäßigen Unterstützungen durch den Verein sollte diese Not gemildert werden. Gründer waren Arbeiter aus dem Steinbruch im Forst, den inzwischen die Destag betrieb. Zu ihnen zählte Peter Seibert. Der Gadernheimer, der 1907 nach Reichenbach verzog, gründete dort zudem die Zahlstelle der Steinarbeitergewerkschaft – 1905 im Gasthaus Zur Riesensäule – und wurde später deren Vorsitzender. In den Blickpunkt der Arbeiterzeitungen geriet in diesem Jahr eine Aussperrung mit nachfolgendem Streik: Nachdem rund 300 Arbeiter der Gewerkschaft beigetreten waren, wurden sie von ihren Arbeitgebern entlassen, obwohl das sogenannte Koalitionsrecht gesetzlich verankert war. Die Arbeiter antworteten mit einem Streik.

Protest im Deutschen Haus
Am Sonntag, 19. November 1905, fand dann im Deutschen Haus in Gadernheim eine Protestveranstaltung statt, über die unter anderen die Mainzer Volkszeitung berichtete: „Obwohl der Regen in Strömen floss, wanderten weit über 500 Berufskollegen nach Gadernheim.“ Von Bensheim waren 30 Kollegen gekommen, in Elmshausen hatten sich 70 hinzugesellt, in Reichenbach über 150, „nebst einigen Frauen“. Besucher seien auch aus Beedenkirchen, Reinheim und Ernsthofen gekommen. Die Lindenfelser Kollegen hätten sich vollzählig eingefunden.
Das Versammlungslokal habe sich als viel zu klein erwiesen. Zahlreiche Steinarbeiter hätten keinen Zutritt erhalten, obwohl sie teilweise einen Weg von mehreren Stunden zurückgelegt hatten. Im Odenwälder Granitgebiet habe noch niemals eine solch stark besuchte Steinarbeiterversammlung stattgefunden.
Wenn auch weder die Protestversammlung noch der Streik selbst sichtbare Erfolge brachten, wurde wenigstens bis zur nächsten großen Aussperrung 1910/11 das Koalitionsrecht der Arbeiter geachtet, und die Löhne wurden zwischen den Tarifpartnern ausgehandelt. Dies auch, weil sich die wirtschaftliche Lage im Deutschen Reich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gut entwickelt hatte.
Nach dem Krieg jedoch lag die gesamte deutsche Wirtschaft darnieder, der Abwärtstrend auch der Steinbranche verstärkte sich noch durch die Inflation 1923. Nach kurzzeitiger Besserung kam durch die Weltwirtschaftskrise 1929 die Steinverarbeitung im Tal fast vollständig zum Erliegen. Erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, mit dem Bau des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg sowie weiterer Prunkbauten, hatten die Steinarbeiter wieder Arbeit.
Die Konjunktur nutzten Philipp Eichhorn und Peter Walter und gründeten am 1. April 1938 – zuerst in der Rossmannsmühle, dann unweit des früheren Steinbruchs im Forst – einen Betrieb. Er entwickelte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg gut und trotzt durch stabile Geschäftsbeziehungen der Verschärfung des globalen Wettbewerbs.

Artikel aus dem Bergstraesser Anzeiger, Februar 2017, Autor: Heinz Eichhorn

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